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„Im Laufe der Jahre habe ich mich selber verloren“: Eine berührende (Lebens-)Geschichte zum Gedenktag für verstorbene Drogengebrauchende

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Juli 2024, Sarah S. (Name geändert) sitzt mir gegenüber. Ich bin Nils Lüke und seit 14 Jahren in der Suchtberatung bei Caritas-AufWind in Attendorn tätig. Mit ihrem Partner und drei ihrer insgesamt vier Kinder lebt sie einem Haus im Kreis Olpe. In einem mittelständischen Unternehmen ist Sarah S. im Bereich der Organisation tätig. Sie bestellt Waren, telefoniert mit Kunden und überwacht Bestellungen. Es ist eine verantwortungsvolle Tätigkeit. Sarah S. strahlt Ruhe und Ausgeglichenheit aus. Sie steht, wie man so sagt, mitten im sauerländischen Leben.

Juli 2010: Sarah S. sitzt mir zum ersten Mal gegenüber. Mit dabei ist ihr damaliger Partner. Beide sind vor wenigen Tagen aus dem Ruhrgebiet ins Sauerland gezogen. Die 25-jährige Frau ist „auf Bewährung“ und befindet sich in Substitution. Im sogenannten Methadon-Programm ist sie aufgrund ihrer Heroinabhängigkeit. Sarah S. ist aufgekratzt und will möglichst schnell wieder gehen.

14 Jahre liegen zwischen unseren beiden Begegnungen. Beide Treffen finden in den Räumen der Suchtberatung von Caritas-AufWind statt. Ich durfte Sarah S. einige Jahre im Rahmen der psychosozialen Begleitung (PsB) unterstützen. Anlass unseres Wiedersehens im Juli 2024 ist der 21. Juli. Dieser Tag ist der Gedenktag für verstorbene Drogengebrauchende. Wir sprechen zu diesem Anlass über ihr Leben, ihre Kindheit, Jugend und das Erwachsenenalter, ihre Konsumgeschichte, ihre Zeit ohne Drogen und ihren Alltag. Sie hat überlebt. Einige ihrer Mitkonsumierenden nicht. „Ich hatte Glück“, sagt sie.

„Eigentlich bin ich gut behütet groß geworden“

Sarah S. wächst in einer Kleinstadt im Münsterland auf. Sie ist die Zweitgeborene von insgesamt vier Töchtern. „Ich bin total familiär aufgewachsen. Es war eine richtig große Familie, mit Onkel, Tanten, Cousinen, Cousins, Oma, Opa. Papa hat gearbeitet, Mama war zuhause, wenn wir aus Kindergarten oder Schule kamen. Sie hat sich gekümmert, Essen stand auf dem Tisch, es war sauber“, so Sarah S. „Eigentlich sind wir gut behütet groß geworden“. Eigentlich. Dann folgt das Aber. Das Aber ist ein Ereignis, dem in den darauffolgenden Jahren weitere folgen und das rückblickend betrachtet, den Konsumweg von ihr mindestens begünstigt hat.

Sie ist ungefähr zehn Jahre alt, als ihr Opa sie erstmals sexuell missbraucht. „Er hat mich angefasst an Stellen, von den ich ganz schnell wusste, das ist nicht gut“, beschreibt die inzwischen 40-jährige. Bis sie etwa 20 Jahre alt ist, ergreift der „Mann meiner Oma“ – so nennt Sarah S. den Täter im Laufe unseres Gesprächs – viele Male die Gelegenheit zum sexuellen Übergriff. Eine ihrer Schwestern wird ebenfalls zum Opfer.  Die Geschwister nehmen ihren Mut zusammen und informieren die Eltern. Diese hätten das Verhalten des Opas „abgetan“: „Der meint das nicht so. Dann müsst ihr ihm sagen, dass ihr das nicht wollt“, erinnert sich Sarah S.
Sie fängt an, sich zu ritzen. Es hilft ihr, sich zu spüren. Der Konsum beginnt. Mit 13 sind es Alkohol und Zigaretten, im gleichen Jahr folgt Cannabis. „Leider hat es sich gut angefühlt“, sagt sie. Zunächst konsumiert sie nur an Wochenenden, dann sitzt sie betrunken und bekifft im Unterricht. Mit etwa 14 oder 15 Jahren kommen Ecstasy und Amphetamine hinzu. Mit 19 Jahren bekommt sie ihr erstes Kind. In der Schwangerschaft stellt sie jeglichen Konsum ein, beginnt aber nach dem Stillen wieder von vorne. Sarah S. ist Anfang 20, als sie erstmals Heroin nimmt. Zunächst inhaliert sie die Dämpfe des erhitzten Opiats, später spritzt sie es sich in die Venen. Ein Konsumverlauf im Zeitraffer.

Wofür war es gut zu trinken, zu kiffen oder Amphetamine zu nehmen? Sie überlegt: „Gute Frage. Als Jugendliche war ich immer unzufrieden mit meinem Aussehen. Die Haare, ich fand mich zu klein, zu dick. Wenn ich gekifft habe, war ich okay. Das haben Drogen generell bei mir gemacht. Egal welche Drogen ich konsumiert habe, die taten mir gut. Ja, die taten mir gut. In dem Moment.“, so Sarah S. weiter. Und wie hat Heroin auf sie gewirkt? Sie überlegt und sagt: „Ich habe mich normal gefühlt. Ich habe mich heile gefühlt.“ Pause. „Irgendwie habe ich mich dann gesund gefühlt. Also in dem Moment ging es mir richtig gut.“ Wieder entsteht eine Pause. Dann spricht sie weiter: „Geistig, seelisch, körperlich ging es mir dann gut.“ Nach einer weiteren Pause erklärt sie: „Ich befürchte, irgendwann im Laufe der Jahre habe ich mich selber verloren. Und Heroin hat mir das Gefühl gegeben, wieder vollständig zu sein.“

Sätze, die beindrucken und die Gefahr von Substanzen veranschaulichen. Weil sie so wirken, wie sie wirken, möchten die Konsumierenden die Wirkung immer wieder erleben. Das Risiko des Substanzmissbrauchs bis hin zur Abhängigkeit steigt. Sarah S. wird heroinabhängig und diese Abhängigkeit ist teuer. Sobald die Wirkung der Droge nachlässt, erleiden die Menschen starke Entzugssymptome und wollen diese umgehend mit einem erneuten Konsum lindern. Sarah S. beginnt zu klauen – in Geschäften oder sie bricht Autos auf. Sie hat sich nie prostituiert und ist heute stolz und glücklich darüber. Eine erneute Schwangerschaft bemerkt sie erst spät.

„Ich konnte erstmals Hilfe annehmen“

Als sie im Sommer 2010 in den Kreis Olpe zieht, lebt ein Kind bei ihren Eltern, das andere in einer Pflegefamilie. Sie wird erneut schwanger. „Ich glaube diese Schwangerschaft hat bei mir ganz viel verändert“, sagt sie. „Ich habe zwei Kinder in die Welt gesetzt, die nicht bei mir leben und das habe ich als ganz schlimm empfunden“, spricht sie mit imponierender Offenheit. Sie fragt in der Suchtberatung nach Unterstützung. Wieviel mg Methadon darf eine Mutter nehmen, wenn sie ihr Kind stillen will? Wo bekommen werdende Mütter finanzielle Unterstützung? Dies sind Beispiele für Fragen, die Sarah S. hat.

„Zum ersten Mal konnte ich Unterstützung annehmen. Zuvor, auch bei meiner abgebrochenen Therapie, konnte oder wollte ich die Hilfe nicht annehmen. Obwohl da sehr gute Therapeuten waren, welche die Finger in meine Wunden gelegt haben. Ich war da noch nicht bereit. Mit meiner dritten Schwangerschaft war es anders. Ihr habt meine Vorgeschichte nicht verurteilt“, so die Hilfesuchende dankbar. „Und weil ihr mir Fragen beantwortet habt, mich an weitere unterstützende Stellen vermittelt habt. Weil ihr euch Zeit genommen habt. Das hat mir geholfen.“ In den Folgejahren absolviert sie eine Ausbildung, macht den Führerschein, bekommt ein weiteres Kind, trennt sich, findet einen neuen Partner. Sie kaufen ein Haus. Ihre Tochter kommt aus der Pflegefamilie zurück. Sarah S. bildet sich weiter und ist inzwischen vollzeitbeschäftigt. Ein Lebenslauf im Zeitraffer.

Sie wird nachdenklich. „Mir ist bewusst, wieviel Glück ich hatte.“ Die vierfache Mutter denkt an Menschen, die nicht überlebt haben. „Die Abhängigen gingen zum fixen weg und kamen nicht wieder“, sagt sie. Sarah S. hat einen toten Mitkonsumenten gesehen: „Er war so alt wie ich.“ Sie spricht dankbar darüber, wie sich ihr Leben positiv verändert hat. „Mein Papa hat Tränen der Freude und des Stolzes in den Augen, wenn er sieht, wie ich jetzt lebe. Meine Mutter sagt, dass sie ständig Angst hatten, wenn das Telefon klingelte. Sie dachten, es sei die Polizei, die ihnen mitteile, dass sie meine Leiche gefunden haben.“ Vom Arbeitgeber, einem Arbeitskollegen und ihren besten Freundinnen erhalte sie ebenfalls Anerkennung für ihre Entwicklung.

Obwohl Sarah S. seit über zehn Jahren „clean“ ist, meldet sich in gewissen Situationen „ein Suchtmännchen“, wie sie es nennt. In emotional belastenden Momenten etwa komme der Wunsch nach Entlastung auf und dann erinnere sie sich an die Wirkung der Substanzen. Sie könne sich dann ablenken und wisse, dass sie auch jederzeit wieder die Unterstützung der Suchtberatung anfragen würde. Als wir unser Gespräch beenden, wird Sarah S. von ihrer Tochter abgeholt. Beide strahlen, als sie sich sehen.

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Vertrauen aufbauen, Hilfe annehmen: Nils Lüke aus der Suchtberatung von Caritas-AufWind ist täglich mit bewegenden Schicksale konfrontiert.

Attendorn, 19.07.2024
Nils Lüke, Suchtberatung Caritas-AufWind